Als Ruths Eltern versterben, reagiert die junge Frau mechanisch. Sie schiebt die Trauer beiseite und funktioniert nur noch. Dabei steht sie plötzlich vor einer schwierigen Aufgabe, denn die Eltern wollen nicht wie erwartet in Wien bestattet werden, sondern in Groß-Einland, dem Ort, in dem sie einst aufgewachsen sind. Nur mit ausgeprägtem Starrsinn und viel Glück findet Ruth diesen Ort. Das Lesegefühl, dass sich schon mit den ersten Worten in mir entwickelte, bestätigte sich. Denn zur außergewöhnlichen Protagonistin – Ruth kommt zwar bodenständig, aber dennoch strange rüber – und der sich vom Durchschnittsroman abhebenden Sprache wird nun auch die Kulisse ein stückweit surreal. Mit einer Lektürestimmung zwischen Kafka und Alice im Wunderland erlebte ich das Ankommen Ruths in Groß-Einland, was mich ebenso wie sie selbst aus den Socken kippen ließ.
Wo waren wir nur gelandet? Dieses Dorf scheint es offiziell nicht zu geben, und doch ist es nicht zu verleugnen. Dieses Dorf hat seine ureigenen Regeln, Gesetze und Bewohner. Alles ist eine bunte Mischung aus gelinde gesagt unfassbar und dennoch ebenso real wie das geordnete Wien, aus dem Ruth hergekommen ist. Dieses Dorf scheint auf Eingriffe in das System äußerst empfindlich zu reagieren. Denn führten die bis dato eher kleineren Unstimmigkeiten der Bewohner untereinander und mit der alles beherrschenden Gräfin nur zu kleineren Folgen, die man mit oberflächlichen Schnellschusslösungen zufriedenstellend in den Griff bekam, hat das Dorf seit Ruths Ankunft zunehmend mit Problemen zu kämpfen.
Unter Groß-Einland liegt ein großer Hohlraum, der eng mit Österreichs Geschichte verknüpft ist. Das Loch ist dunkel. Jeder weiß, dass es existiert, aber kaum jemand mag darüber reden, was Ruth ziemlich frustriert. Denn sie hat von der Gräfin höchstpersönlich den Auftrag bekommen, ein Mittel zu finden, um die negativen Auswirkungen des Hohlraums auf das Dorf zu unterbinden. Wie jedoch löst man ein Problem, wenn einem die wichtigsten Parameter verschwiegen werden? Die junge Frau forscht also auf eigene Faust weiter, findet einiges an interessanten Fakten, die zudem dem allgemein verbreiteten Wissen innerhalb des Dorfes widersprechen. Aber diese Unstimmigkeiten werden von Gräfin und Bewohnern ebenso leichtfertig übergangen wie die immer größeren vom Loch verursachten Schäden. Zudem scheint niemand davon begeistert zu sein, dass Ruth dem Hohlraum so viel Beachtung schenkt. Denn die Prioritäten, die im Verlauf ihres Aufenthalts in Groß-Einland von oberster Stelle gesetzt werden, sind ganz andere und da Ruth zu Diensten steht, wird ihr Arbeitsauftrag modifiziert.
„Das flüssige Land“ behandelt auf kreative, interessante und äußerst phantastische Weise die Geschichte Österreichs im Bereich des Nationalsozialismus und stimmte mich sehr nachdenklich. Denn nicht nur auf dieses spezielle Thema bezogen schreibt sie sehr eindrücklich, auch die allgemeine Abstraktion des Vergessens, Verdrängens und ja, auch des Manipulierens verarbeitet Raphaela Bauer äußerst eindrucksvoll. Die Geschichte an sich, ohne in irgendeinen Hintergrund gebettet, wirkt in sich unfertig, sie scheint viele lose Fäden zu haben, ebenso ein offenes Ende. Positioniert man sie jedoch in den Zusammenhang, in den sie gehört, ist sie rund, logisch, vollständig und kann ihr Potenzial entfalten.
Neben der gut umgesetzten Figur der theoretischen Physikerin Ruth hat es mir sehr gut gefallen, mit der Historie einmal ganz anders konfrontiert zu werden. Diese Geschichte, die mit dem Dorf Groß-Einland etwas beschreibt, was es eigentlich gar nicht geben dürfte, unterstützt den Verdrängungsmechanismus vieler Menschen bezogen auf den Nationalsozialismus – stellvertretend für viele andere Themen, die man lieber totschweigen würde – oder in einem Loch vergraben.
Der Stil hat mir wahnsinnig gut gefallen. Denn Ruth, die zum Thema Zeit forscht, verschlägt es an einen Ort, der auf allgemeingültige physikalische Regeln zu pfeifen scheint. Manchmal beim Lesen war es mir, als falte sich der Raum nicht nur im Dorf auf, die Wirkung war umfassender. Auch die Zeit schien nach anderen Gesetzmäßigkeiten zu vergehen. Im Roman existieren zwei Parallelwelten nebeneinander, miteinander verbunden von einem Hohlraum, der hüben wie drüben einem Schwarzen Loch gleich Dinge zu verschlingen droht. Dauerhaft eine Balance zu halten ist nicht möglich.
„Das flüssige Land“ stand für meinen Geschmack zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2019. Dieser Roman hat mich in allen Punkten überzeugt und ist nach der letzten Seite zwar beendet, beschäftigt mich aber weiterhin. Eine Empfehlung an alle, die gerne Bücher lesen, die nicht auf altbewährten Schienen fahren, sowie phantastische Einschübe und historische Bezüge mögen.
Inhalt
Ein Ort, der nicht gefunden werden will. Eine österreichische Gräfin, die über die Erinnerungen einer ganzen Gemeinde regiert. Ein Loch im Erdreich, das die Bewohner in die Tiefe zu reißen droht. In ihrem schwindelerregenden Debütroman geht Raphaela Edelbauer der verdrängten Geschichte auf den Grund.
»„Das flüssige Land“ [ist] eine abgründige und einfallsreiche Parabel auf Österreich und den Umgang mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit, ein philosophisch-phantastischer Roman« Florian Baranyi, ORF, 25.08.2019
Der Unfalltod ihrer Eltern stellt die Wiener Physikerin Ruth vor ein nahezu unlösbares Paradox. Ihre Eltern haben verfügt, im Ort ihrer Kindheit begraben zu werden, doch Groß-Einland verbirgt sich beharrlich vor den Blicken Fremder. Als Ruth endlich dort eintrifft, macht sie eine erstaunliche Entdeckung. Unter dem Ort erstreckt sich ein riesiger Hohlraum, der das Leben der Bewohner von Groß-Einland auf merkwürdige Weise zu bestimmen scheint. Überall finden sich versteckte Hinweise auf das Loch und seine wechselhafte Historie, doch keiner will darüber sprechen. Nicht einmal, als klar ist, dass die Statik des gesamten Ortes bedroht ist.
Wird das Schweigen von der einflussreichen Gräfin der Gemeinde gesteuert? Und welche Rolle spielt eigentlich Ruths eigene Familiengeschichte? Je stärker sie in die Verwicklungen Groß-Einlands zur Zeit des Nationalsozialismus dringt, desto vehementer bekommt Ruth den Widerstand der Bewohner zu spüren. Doch sie gräbt tiefer und ahnt bald, dass die geheimnisvollen Strukturen im Ort ohne die Geschichte des Loches nicht zu entschlüsseln sind.
Autorin
Raphaela Edelbauer, geboren 1990 in Wien, wuchs im niederösterreichischen Hinterbrühl auf. Sie studierte Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst, war Jahresstipendiatin des Deutschen Literaturfonds und wurde für ihr Werk »Entdecker. Eine Poetik« mit dem Hauptpreis der Rauriser Literaturtage 2018 ausgezeichnet. Beim Bachmannpreis in Klagenfurt gewann sie 2018 den Publikumspreis. 2019 wurde ihr der Theodor-Körner-Preis verliehen.
Quelle: Klett-Cotta Verlag
Ich lese es gerade, liebe Heike und musste erstmal damit warm werden.
Zuvor hatte ich „Brüder“ von Jackie Thomae von der Shortlist gelesen und das gefiel mir besser und sehr gut und war eingänglicher. „Das flüssige Land“ ist doch sehr „speziell“ und ich muss sehen, wo es mich noch hinträgt.
Ein schönes Wochenende,
Simone.
Dann werde ich es mal mit diesem Buch versuchen, denn auch dieses habe ich in die engere Wahl gepackt. Ich hoffe, dass ich mit dir übereinstimmen werde. Mal sehen! Jedenfalls warst du sehr fleißig, was das Buchpreislesen angeht! :-)
GlG, monerl
Liebes Monerl,
das Buch habe ich erst im Nachhinein verstanden, während des Lesens dachte ich vor allem an einer Stelle, dass alles mit losen Fäden endet, aber nach dem Ansehen eines Interviews mit der Autorin ist alles an den richtigen Platz gefallen.
Ich wünsche dir eine gute Zeit mit dem Buch, falls du es liest.
LG Heike