Die Inhaltsangabe des Verlags ist so treffend, dass ich sie zur Einstimmung auf diesen wunderbaren Erzählband verwende, anstatt – so wie sonst – eigene Worte dafür zu finden.
„David Constantines Erzählungen sind einmalig: Zutiefst poetische, mal zarte, mal aufwühlende Bilder und eine klare, scharfe Beobachtung der archaischen Kräfte, die im Menschen und in der Natur wirken, zeugen von seinem untrüglichen Gespür für die Schönheit und Sonderbarkeit der Welt.
Der Körper einer Frau, seit Jahrzehnten im Eis konserviert, bricht aus der Vergangenheit in die schon fünfzig Jahre währende Ehe der Mercers ein und bringt sie ins Wanken. Dem erfolgreichen Investmentberater Mr Silverman kommt seine Seele abhanden, aber niemand stört sich daran. Lou findet bei Owen Zugang zu der verblüffenden Schönheit der Natur, jenseits der ausgetretenen Pfade einer gewöhnlichen Liebesbeziehung.
Die Atmosphäre dieser Erzählungen nimmt sofort von uns Besitz. Der Alltag ist den Menschen bedrohlich geworden, sie sind isoliert, belastet von unausgeprochenen Bürden, und suchen Halt im Ungewissen. Was genau es ist, dem sie um jeden Preis ausweichen oder nachjagen wollen, bleibt meist ungesehen, in weiter Ferne – wie der konservierte Körper der Frau aus »In einem anderen Land«, der im schmelzenden Eis eines Schweizer Gletschers darauf wartet, entdeckt zu werden. Die Landschaft und die Natur aber bergen Möglichkeiten der Erlösung, Orte der Zuflucht und kleine Schätze, die Trost spenden können – wie das Stück Treibholz, das ein Strandgutsammler auswählt, um daraus seine Idee von Perfektion zu schnitzen.
Diese siebzehn ausgewählten Short Stories aus mehr als zwei Jahrzehnten zeigen, warum David Constantine als »vielleicht bester zeitgenössischer Autor dieses Genres« (The Reader) gesehen wird. Ihre verzaubernde, eindringliche Sprache ist zugleich aufrüttelnd und »stark genug, um zu helfen« (Giorgos Seferis).“
Jede einzelne Erzählung ist einmalig, sowohl was den Inhalt, die Umsetzung, die Zeichnung der Charaktere als auch die sich daraus ergebende gesamte Stimmung betrifft. Manche Geschichten repektive einige ihrer Phasen muten surreal an in ihrer Atmosphäre oder dem Verhältnis der Figuren untereinander. Auch wenn das Innere einiger von ihnen nur langsam aber zielsicher nach außen gekehrt wird, vermag dies den Leser gelegentlich zu überraschen. Wir sind mehr, als wir zeigen, manchmal mehr, als wir selbst wissen, und die Umstände spülen gelegentlich – so wie eine starke Flut eine Überraschung an Treibgut mit sich bringt– eine andere Ausgangslage an den Strand des Lebens. Was daraus werden kann, zeigt der Autor in seinen siebzehn einzigartigen Erzählungen.
Auf deren einzelne Inhalte möchte ich gar nicht eingehen. Es sei aber gesagt, dass ihnen sowohl große Vielfalt als auch wunderbare Tiefe innewohnt. Der Stil des Autors ist sicherlich gewöhnungsbedürftig. Er schreibt zwar nicht „ohne Punkt und Komma“, dafür aber ohne Anführungszeichen bei der wörtlichen Rede. Auch hält er sich nicht großartig mit langen, hinhaltenden Beschreibungen auf, sondern fällt direkt „mit der Tür ins Haus“. Als Leser fühlte ich mich jedes Mal wie ein stiller Beobachter, der zufällig von bestimmten Situationen der Beteiligten angezogen wird und sich ihrem Bann nicht entziehen kann, sodass er zwangsläufig das Geschehen weiter verfolgen muss.
Die Länge der einzelnen Erzählungen ist angenehm, sie sind auch jeweils in sich abgeschlossen. So muss man das Buch nicht zwangsläufig chronologisch lesen und kann auch problemlos – so habe ich es getan – Pausen einlegen, um den einzelnen Erzählungen großzügigen Raum zur Entfaltung zu geben.
Ungewöhnliche Geschichten mit ungewöhnlichem Stil ergeben ein ungewohntes Lesevergnügen – sehr empfehlenswert!
Autor
David Constantine, geb. 1944, ist britischer Autor, Dichter und Übersetzer. Er hat dreißig Jahre lang deutsche Sprache und Literatur in Durham und Oxford gelehrt, und von 2003 bis 2012 mit seiner Frau die Literaturzeitschrift Modern Poetry in Translation herausgegeben. Neben preisgekrönten Lyrik- und Short Story-Bänden und zwei Romanen hat Constantine Übersetzungen aus dem Deutschen veröffentlicht, u. a. von Goethe, Hölderlin, Kleist und Brecht. Constantine lebt in Oxford und Scilly.
Quelle: Verlag Antje Kunstmann