*+* Jean Webster: „Lieber Feind“ *+*

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Als Judy, die wir aus dem wunderbaren Brief-Roman „Daddy-Long-Legs“ kennen, ihre Freundin Sally mit der Leitung des John-Grier-Kinderheims betrauen möchte, hält sie dies für einen schlechten Scherz. Eigentlich möchte Sally sich dieser verantwortungsvollen Aufgabe nicht stellen. Als ihr Ehrgeiz geweckt wird, sagt sie schließlich doch zu – aber nur vorübergehend, natürlich! Sie wird sich solange um die rund hundert Waisen kümmern, bis eine Leiterin zur dauerhaften Betreuung des Heims gefunden ist. Bis es soweit ist, legt Sally jedoch nicht die Füße hoch. Wenngleich sie diese Aufgabe auch nur vorübergehend übernommen hat, setzt sie dennoch alles daran, es ihren Schutzbefohlenen so angenehm wie möglich zu gestalten und sich um ihre bestmögliche Erziehung und Versorgung zu kümmern. Ihre anfänglich heftigen Widerstände gegenüber ihrem Job bröckeln stetig, die Kinder wachsen ihr nach und nach immer mehr ans Herz. Sally ist es nicht nur wichtig, ihnen ein Dach über dem Kopf zu geben, sondern ihre Motivation wächst ebenfalls unaufhaltsam, den Kindern gesunde Ernährung, freundliche Atmosphäre, Bildung und Lebensklugheit angedeihen zu lassen. Als Katalysator wirkt alsbald der für das Heim zuständige, ewig schlecht gelaunte und dauernörgelnde Kinderarzt, den sie sich zunächst als Feind auserkoren hat. Aber auch andere Beteiligte treffen nicht auf ihre ungeteilte Zustimmung und sie macht es sich zum Hobby, all die Zweifler galant um den Finger zu wickeln und immer wieder ihre Wünsche und Willen durchzusetzen.

Daraus schöpft Sally immer wieder neue Ideen und ihr Durchhaltevermögen bis die Leitung ihr in Herz und Blut übergegangen ist und sie sich, auch wenn sie gelegentlich eine andere Stimmung verbreitet, ganz wohl mit ihrer verantwortungsvollen Aufgabe fühlt. Hand aufs Herz… Haben wir es nicht schon bei ihrem Antritt der Stelle geahnt, dass Sally ihre Küken niemals mehr im Stich lassen wollen wird?

Der Schreibstil in den Briefen an ihre zahlreichen Empfänger ist überwiegend heiter, bisweilen bissig, aber immer grundehrlich. Sally nimmt niemals ein Blatt vor den Mund und ich musste so oft lachen. Gut, dass die tolle Heimleiterin, die ihre Aufgaben mit Bravour meistert, ein Stehaufmännchen ist und sich nie langfristig von Rückschlägen blockieren lässt. Manchmal kommen ihr schreckliche Gedanken in den Sinn, aber ihre Grundheiterkeit und ihr steter Optimismus lassen sie an den teils sehr traurigen Schicksalen der Kinder nicht verzweifeln. So überwogen bei mir beim Lesen ganz klar die Lachtränen.

Gut gefallen hat mir zudem, dass der Leser durch Sallys zahlreiche Briefe an Judy, die als Kind und Jugendliche selbst als Waisenkind im John-Grier-Heim lebte, auch deren Werdegang ein wenig im Auge behält. Überhaupt dreht sich dieser Briefroman nicht ausschließlich um die Kinder. Auch Sally selbst entwickelt sich weiter, sowohl in ihrem Arbeitsbereich, aber auch im Privaten hat die patente Frau das Glück auf ihrer Seite.

„Lieber Feind“ ist eine gelungene Fortführung von „Daddy-Long-Legs“, wenngleich das Buch nicht ganz an diesen Roman herankommt.

Inhalt
Ein Waisenhaus leiten? Sally McBride erklärt ihre beste Freundin Judy für komplett verrückt, als diese ihr die Leitung des John-Grier-Heims übertragen will. Hätte ihr Verlobter nicht schallend gelacht und damit ihren Ehrgeiz geweckt, Sally hätte niemals eingewilligt.
Plötzlich einhundert Kinder zu haben, ist keine leichte Aufgabe! Und die Zustände im Heim sind haarsträubend. Mit Verve geht Sally an die Arbeit, um ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Doch dabei macht sie sich nicht nur Freunde. Ihr liebster Feind allerdings ist und bleibt der betreuende Kinderarzt Dr. Robin MacRae.
Mit „Lieber Feind“ knüpft Jean Webster an „Lieber Daddy-Long-Legs“ an. Im Unterschied zu den Briefen von Judy an Daddy-Long-Legs, schreibt Sally an mehrere Adressaten, auch an Judy, so dass wir so auch erfahren, wie deren Geschichte weitergeht. Geistreich, anrührend und voller Charme, sollte man sich auch diesen wunderbaren Briefroman nicht entgehen lassen!
Übersetzt von Ingo Herzke

Autorin
Jean Webster, eigentlich Alice Jane Chandler Webster (1876 – 1916), war eine amerikanische Schriftstellerin und Journalistin und eine Nichte von Mark Twain. Sie studiert Englisch und Ökonomie am Vassar College. Ihr berühmtester Roman ist der Briefroman „Daddy-Long-Legs“.
Quelle: Carlsen Verlag

Über irveliest

Wie ihr euch sicher schon denken könnt lese ich sehr gerne, am liebsten Krimis und Thriller, aber auch niveauvolle Romane, Kinder- und Jugendbücher. Meine Lieblingsbuchhandlungen sind unsere kleine Buchhandlung am Ort und zum ordentlichen Stöbern Thalia in der Nachbarstadt. Online stöbere ich am liebsten bei lovelybooks und auch bei Amazon nach Büchern...
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Eine Antwort zu *+* Jean Webster: „Lieber Feind“ *+*

  1. Liebe Heike,
    ich bin ganz deiner Meinung, mir hat der zweite Briefroman von Jean Webster auch sehr gefallen. „Lieber Daddy-Long-Legs“ ist natürlich nicht zu übertreffen, doch „Lieber Feind“ kommt nahe dran. :)
    Liebe Grüße
    Nicole

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