*+* Ruth Ware: „Woman in Cabin 10“ *+*


Stell dir vor, du gehst an Bord eines Luxusliners. Du bist Journalistin und nur durch eine berufliche Fügung des Schicksals an diese Jungfernfahrt gekommen. Nicht deine Vorgesetzte, sondern du hast die Chance, mit einem knackigen Artikel die Fachwelt von deinem Können zu überzeugen und die Karriereleiter hinaufzufliegen. Du freust dich auf die Zeit auf dem Schiff, bist motiviert und voller Tatendrang. Zudem erhältst du so nebenbei die Chance, die furchtbaren Ereignisse der jüngsten Vergangenheit in deinem Privatleben hinter dir zu lassen und sie für ein paar Tage vergessen zu können.

In der Tat, die Vergangenheit gerät schon nach kurzer Zeit völlig aus deinem Fokus. Denn die Kreuzfahrt fordert dich voll und ganz. Weil du deine Karriere-Chance nutzen willst und alles für einen Top-Artikel gibst? Oh nein, dieser Plan ist schon schnell über Bord gegangen. Genauso wie die Dame aus der Kabine neben dir. Anders kannst du dir das vermeintliche Verschwinden von „Woman in Cabin 10“ nicht erklären. Du hast sie gesehen, ganz sicher! Du hast mit ihr gesprochen, ebenfalls ganz sicher! Zumindest denkst du das…. Aber es gibt niemanden, der deine Behauptungen stützen kann. Niemand hat diese ominöse Frau in welcher Weise auch immer wahrgenommen. Du beginnst an dir zu zweifeln. Du hast sie doch am Vorabend ihres „Verschwindens“ in ihrer Kabine getroffen? Oder fordern die Vorkommnisse der letzten Wochen vor dieser luxuriösen Kreuzfahrt ihren Tribut? Es war nicht leicht für unsere Protagonistin Lo Blacklock. Und die Mengen an Alkohol, die sie zur Beruhigung ihrer Nerven brauchte, ist einem guten, sicheren Erinnerungsvermögen auch nicht zuträglich. Ist Lo einer Täuschung aufgesessen? Hat sie halluziniert? Aber sie ist sich eigentlich ja doch sicher, dass sie die Frau in der Kabine 10 wirklich gesehen hat.

Die Art und Weise, mit der die Autorin mit dem Gefühls- und Seelenleben ihrer Hauptfigur – und letzten Endes auch mit dem Leser – spielt, ist grandios. Ich hatte stellenweise fast das Gefühl, selbst Lo zu sein, so intensiv bin ich in ihre Gedankengänge, Erinnerungen und Zweifel eingetaucht. War mir zwischendurch auch nicht sicher, ob es die mysteriöse, verschwundene Frau wirklich gibt, oder ob der Leser lediglich in die verschwommenen Wunschgedanken der Journalistin Einblick genommen hat. Umso spannender war es für mich, gemeinsam mit Lo akribisch nach verräterischen Spuren zu suchen, um diesen dann nachgehen zu können. Für den Fall, dass tatsächlich „Woman in Cabin 10“ über Bord gegangen ist, hatte ich recht schnell eine wahnwitzige Idee entwickelt. Aber was, wenn rein gar nichts passiert ist und wirklich Sinnestäuschung ein Verbrechen vorgegaukelt haben? Ich schätze es sehr, wenn Thriller ohne (großes) Blutvergießen auskommen und mich dennoch schon nach wenigen Seiten derart an die Buchseiten fesseln, sodass ich mich nur äußerst ungern loseise. Ruth Ware hat dies nach „Im dunklen, dunklen Wald“ nun schon zum zweiten Mal geschafft!

Neben der Hauptfigur befinden sich noch einige weitere VIP-Gäste an Bord der Jungfernfahrt des Luxusliners. Diese werden wunderbar undurchsichtig dargestellt. Bei niemandem konnte ich schnell ausmachen, wer sein wahres Gesicht zeigt oder ein doppelbödiges Spielchen triebt. Jeder hält sein Blatt bedeckt, niemand lässt sich in die Karten schauen. Bei den buchigen Ermittlungen irrte ich genauso ziellos umher wie auf dem Schiff. Die Autorin hat fast jeden Ort des Schiffes als Schauplatz verwendet und sowohl das räumliche Potenzial als auch die Grundidee des Thrillers in all seinen Möglichkeiten voll ausgeschöpft. So überraschten mich unerwartete Handlungsverläufe ebenso wie gelüftete Geheimnisse um einige der Figuren. Oft passiert es, dass das Ende eines bis dahin schlüssigen, gut durchdachten und umgesetzten Thrillers diesen unbefriedigend oder nicht stringent abschließt. Hier ist genau das Gegenteil der Fall. Der Schluss setzt den Vorkommnissen auf dem Schiff noch einen auf – und das mit einem gut platzierten Knaller.

Die Sprecherin Julia Nachtmann liest langsam, klar und deutlich – was im krassen Gegensatz zur Gefühls- und Gedankenwelt der Hauptfigur steht. Dieser vermeintliche Widerspruch wirkte sich auf mich spannungssteigernd aus. Verstärkt wurde dies noch durch den unheimlichen Unterton, mit dem Julia Nachtmann ihre Lesung würzte.

Zwei Thriller, zweimal Begeisterung – da kann ich nicht anders, als mich auf den nächsten Streich der Autorin zu freuen! Ob gelesen oder gehört, Ruth Wares Geschichten sind fesselnd und mitreißend!

Inhalt
Die Journalistin Lo Blacklock nimmt an der Jungfernfahrt eines exklusiven Luxuskreuzfahrtschiffs durch die norwegischen Fjorde teil. Ein wahr gewordener Traum. Doch in der ersten Nacht auf See erwacht sie von einem Schrei aus der Nachbarkabine und hört, wie etwas ins Wasser geworfen wird. Etwas Schweres – wie ein menschlicher Körper. Sie alarmiert den Sicherheitsoffizier. Aber die Nachbarkabine ist leer, ohne das geringste Anzeichen, dass hier jemand wohnte. Die junge Frau aus Kabine 10, mit der Lo noch am Vortag gesprochen hat, scheint nie existiert zu haben.
Ins Deutsche übersetzt von Stefanie Ochel

Autorin
Ruth Ware wuchs im südenglischen Lewes auf und lebte nach ihrem Studium an der Manchester University eine Zeit lang in Paris. Sie hat als Kellnerin, Buchhändlerin, Englischlehrerin und Pressereferentin für einen großen Verlag gearbeitet und wohnt jetzt mit ihrer Familie in Nordlondon.
Quelle: dtv

Sprecherin
Julia Nachtmann, geboren 1981, hatte Engagements an diversen deutschen Theatern. So gehörte sie zum Ensemble des Deutschen Schauspielhauses Hamburg und wurde für ihre darstellerische Leistung mit dem Boy-Gobert-Preis ausgezeichnet. Darüber hinaus war sie in der Kinokomödie »Die Kirche bleibt im Dorf« und in Fernsehserien wie »Der Dicke« zu sehen. Sie hat bereits zahlreiche Hörbücher eingelesen.
Quelle: Der Audio Verlag

Über irveliest

Wie ihr euch sicher schon denken könnt lese ich sehr gerne, am liebsten Krimis und Thriller, aber auch niveauvolle Romane, Kinder- und Jugendbücher. Meine Lieblingsbuchhandlungen sind unsere kleine Buchhandlung am Ort und zum ordentlichen Stöbern Thalia in der Nachbarstadt. Online stöbere ich am liebsten bei lovelybooks und auch bei Amazon nach Büchern...
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4 Antworten zu *+* Ruth Ware: „Woman in Cabin 10“ *+*

  1. dasSchugga schreibt:

    Das hast du echt unterhaltsam geschrieben 🙂 Vor allem gefällt mir auch, dass du mit auf das Hörbuch eingegangen bist. Ich denke, das wäre was für mich 🙂
    LG Christina P. / dasSchugga

  2. Janna | KeJas-BlogBuch schreibt:

    Mir gefiel „Women in Cabin 10“ trotz einiger Schwächen besser als ihr Debüt. Ganz so begeistert wie du war ich jedoch nicht. Aber Print vs. Hörbuch macht ja auch nochmals einiges aus. Ich finde die Autorin traut sich nicht gänzlich in den psychologischen Tiefgang und das ist schade, denn ihre Ideen sprechen mich sehr und und schreiben kann sie auch

    • irveliest schreibt:

      Liebe Janna, die Thriller von Ruth Ware sind sicher ausbaufähig, aber man merkt schon in der Entwicklung vom ersten zum zweiten Buch eine Steigerung. Ihr Potenzial hat sie sicher noch nicht ausgeschöpft und ich bin schon jetzt sehr gespannt auf den Thriller, den sie aktuell schreibt.
      Liebe Grüße, Heike

      • Janna | KeJas-BlogBuch schreibt:

        Beide Bücher haben ihre Schwächen, ich würde dennoch nicht sagen, einem dritten abgeneigt zu sein. Mal sehen worum es darin geht ;)

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