Als naturwissenschaftlich interessierter Mensch lese ich gerne mal eine Biografie oder auch einen biografischen Roman über Forscher und Pioniere ihres Fachs. Da ich bisher den Raketenbau immer nur mit Wehrner von Braun in Verbindung gebracht habe, war es nun umso interessanter für mich, den Grundlagengeber dieser Technik, Hermann Oberth kennen zu lernen – zumindest literarisch.
Der Autor setzt an in der Jugendzeit des Mannes, der von klein auf fasziniert war von seinen Ideen und ihnen konsequent, auch unter Einsatz seiner Gesundheit, folgte, um schließlich irgendwann später den Traum von seiner Mondrakete nicht nur zu träumen sondern ihn auch in die Realität zu transportieren.
Während des Lesens setzte sich mir der Protagonist als sehr ambivalent, was mein Denken über ihn betraf, zusammen. Einerseits faszinierte er mich mit seinem Erfindergeist und seiner Beharrlichkeit, seine Pläne umzusetzen, sich auch von Niederlagen nicht niederstrecken zu lassen. Aus den Plänen für die Mondrakete wurden zwischenzeitlich zwar solche für Kriegsraketen, aber man muss flexibel sein und ist nicht zuletzt abhängig von seinen Geldgebern, dabei bleibt scheinbar leider gelegentlich die Moral auf der Strecke.
Andererseits war ich entsetzt darüber, welch ein eindimensionaler Mensch der Mann zu sein gewesen schien.
Hermann Oberth wird als verbohrtes und teils verkanntes, besessenes Genie dargestellt, das als Ausgleich zu seinem erfinderischen Ausnahmetalent menschlich einfach nur unterirdisch war. Dabei wurde dies so intensiv und pausenlos manifestiert, dass es auf mich eher unglaubwürdig wirkte. Aber dies sei der schriftstellerischen Kreativität und Freiheit geschuldet, die in einem Roman absolut erlaubt ist. Passend zur inhomogenen Darstellung des Protagonisten ist der Erzählstil nicht immer flüssig, oft stockt und holpert er auch. Das war beim Lesen manchmal nicht so angenehm, stützt aber als gut gewähltes Mittel das dargestellte Wesen Oberths.
Sehr gefallen hat mir die wissenschaftliche Tiefe, die immer wieder zu finden war. Dabei hat der Autor eine gute Balance gefunden zwischen fachlich und verständlich, sodass auch physikalische Laien dem Erzählten immer gut folgen können sollten.
Animiert vom Roman, habe ich anschließend etwas recherchiert und war erleichtert, denn menschlich kommt Hermann Oberth bei anderen Darstellungen und Überlieferungen deutlich besser weg, aber auch die biografischen Aspekte spiegeln nicht an allen Stationen den tatsächlichen Werdegang wider. Das ist wie schon erwähnt für einen Roman in Ordnung, allerdings hätte ich mir, vor allem zu den biografischen Abweichungen im Nachwort ein paar erläuternde Worte gewünscht.
Alles in allem habe ich „Die Erfindung des Countdowns“ aber gerne gelesen. Der Roman hat mich inspiriert, weiter zum Thema zu recherchieren und meinen Horizont erweitert.
Inhalt
Nach dem Ersten Weltkrieg bricht das Zeitalter der Utopien an.
1920 zieht es den jungen Hermann Oberth von Siebenbürgen nach Göttingen, um Physik zu studieren – die spannendste Wissenschaft der Zeit. Hermann will den Menschheitstraum von der Mondrakete verwirklichen. Als der Durchbruch nah ist, weisen seine Professoren ihn ab.
Seine lebenslustige Frau Tilla versucht, einen gemeinsamen Alltag als Familie zu ermöglichen, als doch jemand an Hermanns Forschung glaubt: Wernher von Braun, Mitglied der SS. Doch statt der Mondrakete soll Hermann die V2 mitentwickeln, eine »Vergeltungswaffe« für die Nazis. Seine Kinder Ilse und Julius verliert er an den Krieg. Und so stellt sich ihm und auch Tilla mit voller Wucht die Frage nach der eigenen Verantwortung für die Geschichte.
Autor
Daniel Mellem, geboren 1987, lebt in Hamburg. Sein Studium der Physik schloss er mit einer Promotion ab, bevor er sich am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig der Arbeit an seinem ersten Roman widmete. Für »Die Erfindung des Countdowns« wurde er bereits mit dem Retzhof-Preis für junge Literatur und dem Hamburger Literaturförderpreis ausgezeichnet.
Quelle: dtv