Lese ich irgendwo „Augsburger Puppenkiste“, so habe ich direkt das Intro der entsprechenden Fernsehsendungen aus meiner Kindheit vor Augen. Diese liebenswerten und liebevollen Marionettenspiele haben meine Generation ein Stück weit begleitet und so war es klar, dass ich um den Roman von Thomas Hettche nicht herum kommen würde. Denn hier wird die Geschichte erzählt, die hinter der Puppenkiste steckt. Um es vorweg zu nehmen: Ohne den Zweiten Weltkrieg wären die Fadenpuppen nicht, oder zumindest nicht in dieser Form, entstanden. Und weil die Marionetten so eng mit dieser schwarzen Zeit verbunden ist, lässt sich ihre Geschichte nicht so leicht und schnell erzählen.
Der Autor präsentiert seinen Lesern und Hörern zwar eine Biografie, aber sie ist ihrer Bedeutung angemessen umgesetzt. Denn sie beginnt nicht in der Zeit des Nationalsozialismus, sondern in der Gegenwart, als ein Mädchen im Foyer durch eine eigentlich verborgene Tür in die magische Welt der Puppen gerät und dort im Dunkeln auf Hatü trifft, die Tochter von Walter Oehmichen. Er hat einst den Grundstein des Marionetten-Theaters gelegt, und später gemeinsam mit Hatü Stein für Stein darauf gebaut, respektive Puppe für Puppe geschnitzt. Während des Krieges hatte man nicht viel, auch vor der Kultur machte er nicht halt. Und so galt es auch hier, neue Wege zu gehen. Manchmal kann aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit Großes entstehen, was hier zweifellos der Fall war.
Thomas Hettche erzählt zweisträngig. Zum einen schildert er, was das Mädchen bei Hatü erlebt, mit welchen Puppen sie Bekanntschaft macht – es sind nicht nur schöne sondern auch rätselhafte und merkwürdige Momente dabei -, zum anderen beschäftigt er seine Gefolgschaft mit der für mich etwas rätselhaften Hatü, die selbst zur Erzählerin wird. In diesem zweiten, Raum und Zeit umfassenderen Strang erhebt sich mächtig die Geschichte der Augsburger Puppenkiste.
Begeistert hing ich den beiden Sprechern Valery Tscheplanowa, die die Vergangenheit vertonte, und Christian Brückner, der es mit der Gegenwart aufnahm, an den Lippen, denn sie hauchten der Geschichte Magie, Lebendigkeit und Faszination ein!
Die Familie Oehmichen und ihr Werdegang wurde ebenso detailliert behandelt wie die relevanten Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs. Ebenso wurden einige Marionetten nebst ihrer Ursprungsgeschichten sehr detailliert eingeflochten. Ich fand es schade, dass sich der Autor nicht allen Stücken und Herzenspuppen mit derselben Intensität gewidmet hat, sondern nur denjenigen, die Meilensteine für das Theater bedeuteten, die anderen fanden lediglich Erwähnung. Auch blieben einige Fragen für mich offen, die zwar eher periphere Bedeutung hatten, ich aber dennoch gerne beantwortet gehabt hätte. So fühlte sich der Herzfaden, der mich durchaus erreicht hat, schließlich ein wenig ungleichmäßig gewebt an.
Von den kleinen Kritikpunkten einmal abgesehen, hat mir das Hörbuch gut gefallen. Immer wieder fühlte es sich an wie ein kleiner Ausflug in meine Kindheit, wenn die alten Lieblingsfiguren in den Mittelpunkt rückten. Gut gelungen ist auch die Einbindung geschichtlicher und kultureller Bildung, sodass „Herzfaden“ auf jeden Fall eine Empfehlung an die Interessierten dieser bereiche ist – und für die Freunde der Augsburger Puppenkiste sowieso!!
Inhalt
Ein zwölfjähriges Mädchen entdeckt nach einer Vorstellung der Augsburger Puppenkiste im Foyer des Theaters eine kleine Holztür, öffnet sie und gerät wie Alice im Wunderland in eine Märchenwelt, in der viele Freunde warten: die Prinzessin Li Si, Kater Mikesch, Lukas, der Lokomotivführer und viele andere. Vor allem aber trifft es dort Hatü, die Frau, die einst mit ihrem Vater all diese Marionettenfiguren geschnitzt und gebaut hatte und die eine große Geschichte zu erzählen hat: die Geschichte dieses einmaligen Theaters und der Familie, die es erfunden, gegründet und berühmt gemacht hat. Es ist die Geschichte eines deutschen Kultur-Mythos, die weit zurückreicht in die ersten Jahre des Zweiten Weltkriegs, als Walter Oehmichen, ein Schauspieler des Augsburger Theaters, im Lazarett einen Puppenschnitzer kennenlernt . . .
Autor
Der Romancier Thomas Hettche gehört seit 1989, seit seinem Debüt Ludwig muß sterben, zu den oft polarisierenden, stets überraschenden literarischen Stimmen dieses Landes. Der Fall Arbogast wurde in 13 Sprachen übersetzt, sein Bestseller Pfaueninsel, der die atmosphärische Geschichte einer Kleinwüchsigen im Preussen des 19. Jahrhunderts erzählt, wurde u.a. mit dem Wilhelm-Raabe-, dem Wolfgang-Koeppen-Preis, dem Solothurner Literaturpreis und dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet.
Sprecher
Valery Tscheplanowa studierte Tanz und Puppenspiel, bevor sie zur Schauspielerei fand. Als Theaterdarstellerin kennt sie die Bühnen vom Deutschen Theater Berlin, Residenztheater München, Schauspiel Frankfurt und von der Volksbühne Berlin. Die Schauspielerin des Jahres 2017 wurde auch mit dem Alfred-Kerr-Darstellerpreis, dem Bayerischen Kunstförderpreis sowie dem Kunstpreis Berlin ausgezeichnet. Im Film arbeitete sie bereits mit Regisseuren wie Dominik Graf, Andreas Dresen und Christian Schwochow zusammen.
Christian Brückner, geboren 1943 in Schlesien, wuchs in Köln auf. Engagements am Theater, kontinuierliche Arbeit für Funk und Fernsehen. 1990 erhielt er den Grimme-Preis Spezial in Gold. Schwerpunkt seiner Arbeit heute: öffentliche Literaturlesungen, oft eingebunden in einen musikalischen Zusammenhang. 2000 Gründung des Hörbuchverlags parlando mit seiner Frau Waltraut. 2005 Auszeichnung des gesamten Programms mit dem Deutschen Hörbuchpreis. 2012 wurde Christian Brückner der Sonderpreis für sein Lebenswerk verliehen, 2017 erhielt er den Ehrenpreis der Deutschen Schallplattenkritik und 2018 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.
Quelle: Argon Verlag