Der Prolog beginnt ganz spektakulär, denn unsere Hauptfigur stürzt, noch bevor das Buch überhaupt begonnen hat, bereits in die Tiefe.
Ihr findet das langweilig, weil ja das Ende bereits vorweg genommen wurde? Nun, dann lest bitte unbedingt das Buch, denn so wie man denkt, ist es nicht. Ganz und gar nicht. Weder, was die junge, vermeintlich lebensmüde Frau auf dem Dach betrifft, noch, was der Titel mit allen anderen Protagonisten zu tun hat.
Simone Lapperts Roman handelt nicht in erster Linie von Manu, jedoch ist sie Dreh- und Angelpunkt des genialen Kosmos, den die Autorin ersonnen hat. Denn sie zoomt verschiedene Menschen heran, die dem Spektakel auf dem Dach in verschiedener Weise beiwohnen. Sie betrachtet den Tag davor und den des Sprunges, stellt dabei alle Figuren intensiv und lebhaft dar. Das tut sie so geschickt, dass man meinen könnte, all diesen Romanmenschen liegen als Vorlage reale Menschen zugrunde, die man so ganz nebenbei auch noch gut und lange kennt. Jeder muss sein Päckchen tragen, jeder hat seine eigenen Probleme, die er zu lösen oder auszusitzen versucht.
Im ersten Teil des Buches habe ich mit der Wahl der Charaktere ein wenig gehadert, denn ich hatte eigentlich bei der Bestückung der Nebenrollen einen Durchschnitt der Bevölkerung erwartet, aber unspektakuläre Otto-Normal-Verbraucher gibt es hier in keinem Kapitel. Später im Buch dann, und vor allem in der langen Phase der Nachwirkung ist diese Kritik jedoch verpufft. Denn was ist schon normal? Ist nicht jeder für sich besonders? Im Nachhinein sind die Wahl der Figuren und ihre Beziehungen zueinander so, wie sie sind, genau richtig. Sie alle entwickeln sich, erstaunten mich, teilweise auch sich selbst.
Simone Lappert hat ein tolles Kunstwerk geschaffen, ein prächtiges Bild gemalt aus gelungen gemischten und komponierten Farben der Palette an Worten. Um es mit ihren eigenen Worten auf der Frankfurter Buchmesse zu sagen: „Der Text ist ein Klangkörper.“ Das kann ich voll und ganz bestätigen. Das Gelesene ist mehrdimensional, erreicht den Leser auf vielen Ebenen, ist detailreich und tief… und er hallt lange nach – jedenfalls ist das bei mir der Fall.
„Der Sprung“ ist ein mehr als treffender Titel, denn nicht nur Manu steht vor der Frage, ob sie springen soll oder nicht. Auch alle anderen Protagonisten des Romans sind mit Situationen konfrontiert, in denen sie sich für eine Richtung entscheiden müssen. Und an dieser Stelle kann man den Bogen zum bereits erwähnten Durchschnittsbürger spannen. Denn wie oft kommt ein jeder von uns an Stellen im Leben, an denen er denkt „Bis hierhin, oder weiter?“, „Weitermachen wie bisher oder eine neue Richtung einschlagen?“ „Der Spatz in der Hand oder die Taube auf dem Dach?“
„Der Sprung“ ist definitiv eins meiner Buchlights 2019. Der tiefgründige, kurzweilige, intensive Roman mit seiner ungewöhnlichen Erzählweise, der gelungen komponierten Sprache und dem raffiniertem Plot ist für mich ein kleines literarisches Kunstwerk und sicher eine gute Geschenkidee!
Inhalt
Eine junge Frau steht auf einem Dach und weigert sich herunterzukommen. Was geht in ihr vor? Will sie springen? Die Polizei riegelt das Gebäude ab, Schaulustige johlen, zücken ihre Handys. Der Freund der Frau, ihre Schwester, ein Polizist und sieben andere Menschen, die nah oder entfernt mit ihr zu tun haben, geraten aus dem Tritt. Sie fallen aus den Routinen ihres Alltags, verlieren den Halt – oder stürzen sich in eine nicht mehr für möglich gehaltene Freiheit.
Autorin
Simone Lappert, geboren 1985 in Aarau in der Schweiz, studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Mit ihrem Debütroman ›Wurfschatten‹ stand sie auf der Shortlist des ›aspekte‹-Preises. Sie ist Präsidentin des Internationalen Lyrikfestivals Basel und Schweizer Kuratorin für das Lyrikprojekt ›Babelsprech.International‹. 2019 erschien der Roman ›Der Sprung‹, der für den Schweizer Buchpreis nominiert ist. Sie lebt und arbeitet in Basel und Zürich.
Quelle: Diogenes Verlag
Steht ganz oben auf meiner W-Liste😊
Falls du es liest wünsche ich dir beste Unterhaltung!
Die Schweizerin Simone Lappert schreibt und verwebt das alles erzählerisch großartig mit Herz und Humor – hat mir gut gefallen.
Man staunt über die verschiedenen Handlungsstränge und wie diese verknüpft werden. Dabei ist das in Echtzeit geschrieben mit viel Spannung und die Portraits der Einzelschicksale sind so gekonnt inszeniert, dass man mit jeder Person mitfiebert und auch den Überblick behält. Zum Abschluss kann man sagen, dass die Autorin irgendwie die Schicksale fast einer ganzen Stadt beleuchtet rund um die junge Frau auf dem Dach, und das Beste ist, es geht auch alles halbwegs gut aus und die Menschen konnten sich teilweise aus ihrer Misere befreien, was mir gefiel, auch wenn sie alle das Potenzial gehabt hätten, auf das Dach zu klettern.
Schön, dass Du das Buch vorstellst. Ich glaube, das war mit der aufmerksamkeitserregendste und meistgebloggte deutsche Roman in diesem Jahr ;)
Wirklich? Das Buch ist mir eigentlich nur auf der Messe über den Weg gelaufen, ansonsten habe ich im Netz nicht so viel davon mitbekommen.
Im nächsten Jahr erscheint ein weiteres Buch der Autorin, ich bin sehr gespannt!!