Wenn auf der schönsten Insel, auf der die Geschichte spielt, jemand stirbt, wird ihm sein Miroloi, sein Totenlied gesungen. Das Leben des Verstorbenen wird reflektiert und die Reise ins Totenreich mit erinnernden Texten und klagvollen Tönen begleitet. Das klingt seltsam? Nun, vielleicht sollte man wissen, dass auf dieser Insel ganz eigene Gesetze gelten.
Die Erzählerin hat keinen Namen. Für alles auf der Insel gibt es Bezeichnungen, auch für die seltsamsten Dinge, aber die Erzählerin ist nicht wichtig genug für die Gesellschaft, um auch ihr ein paar Buchstaben, einen Klang, zuzubilligen. Ihrer Mutter war sie scheinbar ebenfalls nicht wichtig, denn die Erzählerin wurde als Baby ausgesetzt. Als der Betvater der Insel sie damals fand, nahm ergab er „mein Mädchen“, wie er sie fortan nannte, ein Heim, zog sie auf, lehrte sie die Regeln des schönsten Dorfes – archaische, grausame, ausgrenzende Regeln, und dennoch scheinbar willkommen, zumindest akzeptiert und nicht hinterfragt. Mein Mädchen wird lediglich toleriert und ist ein willkommener Sündenbock. Furchtbar! Ich habe die junge Frau sofort in mein Herz geschlossen. Sie ist von so wachem Verstand, hat ein gutes Herz und ihre Behandlung ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Wie sehr wünschte ich ihr etwas Glück, Liebe, Freude und Akzeptanz!
„Wenn es Materie und Nichtmaterie gibt, gibt es dann auch ein Nichtich?“
Der Ältestenrat hat das Sagen. Er bestimmt die Regeln. Die Männer dürfen viel, die Frauen wenig. Das war schon immer so, was sollte daran also verkehrt sein? Wer zum Dorf gehört, gehört zur Gesellschaft, wer aus welchen Gründen auch immer anders ist, wird ausgegrenzt und ist der Willkür des Dorfes ausgesetzt. Die Starken regieren die Welt, wie in der Natur! Dabei vergessen die vermeintlich Starken leider, dass sie rein verstandesmäßig weit über den Tieren stehen. Klug verhält sich jedoch kaum jemand. Als sich durch einen Vorfall die Hierarchiestruktur auf der schönsten Insel ändert, kommt das uralte Gefüge ins Wanken. Dinge ändern sich, ebenso die Machtverteilung – und die Menschen. Nicht alle, nicht jeder im gleichen Maße, aber es kommt etwas in Gange, dessen Ausgang unvorhersehbar ist.
Der Betrachter von außen, sprich: der Leser, hat schon längst durchschaut, wo es hakt. Aber wenn man in ein System hineingeboren wird, hinterfragt man es nicht so schnell, wenn es einem trotz einem gewissen Grad an Unterdrückung relativ gut geht. Je mehr jedoch die Scheuklappen erweitert werden – und das geschieht zweifellos bei jedem Kontakt mit der „Draußenwelt“, sei es durch das Lesen verbotener Bücher, oder den Besuch des Händlers, der indirekt ebenfalls die „Drübensucht“ fördert -, umso schwerer ist es für den Ältestenrat, das Volk des schönsten Dorfes auf der schönsten Insel in Schach zu halten. Was, wenn die Menschen bemerken, dass sie ihre Lebensumstände nur deshalb so positiv betrachten, weil sie die Alternative nicht kennen? Das muss unter allen Umständen verhindert werden!
„Mein Mädchen“ hat ebenfalls einen gewissen Abstand zum Geschehen zu dem Ort, an dem sie lebt. Zwar kennt auch sie, ebenfalls wie die anderen Inselbewohner, nichts anderes, aber dadurch, dass sie eine Ausgestoßene ist, mehr Unterdrückung und weniger Annehmlichkeiten erfährt als die anderen Frauen des schönsten Dorfes, hat sie schneller den Punkt erreicht, an dem ihre Unzufriedenheit sich Bahn bricht. Sie hinterfragt zunehmend die Gesetze der schönsten Insel. Sie ist klug, dadurch erschließen sich ihr einige Antworten, ohne dass sie bei ihren Nachforschungen in Gefahr gerät. Nur ein einziges Mal ist sie unvorsichtig – an anderer Stelle, bei einem anderen Thema.
Nun hat sich ihre Lage durch die dramatischen Entwicklungen auf der schönsten Insel durch ihre persönliche Wende so sehr verändert, dass sie nur einen Ausweg sieht….
Das Ende ist offen, daher birgt das Buch neben viel Wut, Zorn, Unmut und Verständnislosigkeit auch eine gute Portion Hoffnung. Das macht Mut in einer Welt, die immer verrückter, immer maßloser und unverhältnismäßiger wird.
Neben einer richtig, richtig guten, mitreißenden, faszinierenden, verstörenden, stellenweise auch betörenden Geschichte, bietet MIROLOI viel Gedankensprengstoff…. über uns, unser „schönstes Dorf“ mit seinen Regeln, die „Draußenwelt“, und das Anderssein.
Die zeitlose, allgegenwärtige Thematik hat mir beim Lesen einiges abverlangt. Der Stoff ist starker Tobak und steht in einem großen Kontrast zur Schönheit der Insel, auf dem sich die Handlung zuträgt, aber auch zur teils wunderschönen Sprache, die die Autorin verwendet. Stellenweise ist der Text philosophisch angehaucht, manchmal wiederum poetisch, und scheint dem sonst eher knappen, sachlichen Stil zu widersprechen.
Aktuell teilt sich „MIROLOI“ mit „Der Gesang der Flusskrebse“ mein persönliches Thrönchen „Buch des Jahres 2019“ und ich habe es gerne als „TOP-Buch für den Oktober 2019“ bei Monerls Linkparty für den aktuellen Monat eingetragen!
Inhalt
„So eine wie ich ist hier eigentlich nicht vorgesehen.“ – Karen Köhlers erster Roman über eine junge Frau, die sich auflehnt. Gegen die Strukturen ihrer Gesellschaft und für die Freiheit
Ein Dorf, eine Insel, eine ganze Welt: Karen Köhlers erster Roman erzählt von einer jungen Frau, die als Findelkind in einer abgeschirmten Gesellschaft aufwächst. Hier haben Männer das Sagen, dürfen Frauen nicht lesen, lasten Tradition und heilige Gesetze auf allem. Was passiert, wenn man sich in einem solchen Dorf als Außenseiterin gegen alle Regeln stellt, heimlich lesen lernt, sich verliebt? Voller Hingabe, Neugier und Wut auf die Verhältnisse erzählt „Miroloi“ von einer jungen Frau, die sich auflehnt: Gegen die Strukturen ihrer Welt und für die Freiheit. Eine Geschichte, die an jedem Ort und zu jeder Zeit spielen könnte; ein Roman, in dem jedes Detail leuchtet und brennt.
Autorin
Karen Köhler hat Schauspiel studiert und zwölf Jahre am Theater in ihrem Beruf gearbeitet. Heute lebt sie auf St. Pauli, schreibt Theaterstücke, Drehbücher und Prosa. Ihre Theaterstücke stehen bei zahlreichen Bühnen auf dem Spielplan. 2014 erschien ihr viel beachteter Erzählungsband “ Wir haben Raketen geangelt“. 2017 erhielt sie für ihren Roman “ Miroloi“ (Hanser 2019) ein Grenzgänger-Stipendium der Robert Bosch Stiftung, 2018 das Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds.
Quelle: Hanser Literaturverlage
Ich werde es demnächst hören und bin schon sehr gespannt. Danke für deine Buchvorstellung. Jetzt würde ich am liebsten sofort loslegen.
Dann wünsche ich dir viel Spaß mit dem Buch und bin sehr gespannt, wie dir die Hörbuchversion gefällt!
Hallo liebe Heike,
vielen Dank für deine Rezension, sie gibt einen sehr guten Einblick in das Buch. Ich schleiche noch drum herum, aber werde es wahrscheinlich noch lesen. :)
Liebe Grüße
Nicole
Liebe Nicole,
ich kann das Buch nur empfehlen!!
Viele Grüße, Heike