Mit sechs Jahren hat Mafalda erfahren, dass sie an einer seltenen Augenkrankheit leidet. Nun ist sie neun und das Schicksal nimmt einen dramatischen Verlauf. Bei der letzten Untersuchung hört das Mädchen, dass es in wenigen Monaten völlig erblindet sein wird. Puh, das ging mir ganz schön nah. Mafalda vielleicht auch. So genau kann ich das nicht sagen, da sie äußerst rational an die Mitteilung herangeht. Keine Wutausbrüche, keine Verzweiflungsausrufe, kein Loch, in das sie fällt. Nein, Mafalda zieht sich nur zurück und überarbeitet ihre Listen, die sie seit drei Jahren führt. Dort hat sie Dinge notiert, die ihr wichtig sind, die sie gerne mag und die sie langfristig befürchtet, nicht mehr tun zu können. Sie reflektiert, überlegt, streicht, ergänzt.
Gäbe es die rumänische Hausmeisterin Estella nicht, würde sich das Mädchen wohl niemandem anvertrauen. Denn Mafaldas Familie zeigt ein für mich seltsames Eltern-Kind-Verhältnis. Liebevolle Eltern zwar, die sich um und für sie sorgen, aber ich spürte immer wieder fehlendes Vertrauen und eine schreckliche Distanz zwischen ihnen.
Diese Distanz gibt es auch zwischen der Geschichte und mir, denn so schön und wunderbar die Botschaft, auf die wir hinarbeiten, auch ist, die Handlungen und Entwicklungen wurden für dieses Thema entsetzlich emotionslos und sachlich geschildert. Zudem passt Mafaldas Verhalten, das ab und zu zwar schon sehr kindlich ist, oft nicht zu ihrem Alter. Sie agiert, reflektiert tiefgründiger und intensiver als so mancher Erwachsener. Auch sind mir ihre Wortgewandtheit und die Richtungen ihrer Gedanken oft etwas suspekt für ein neun- respektive zehnjähriges Kind erschienen. Man sagt ja, Kinder, die ein hartes Schicksal ereilt hat, agieren oft „älter“ als andere Kinder, aber das war es nicht. Die Erzählung über Mafalda wirkt nicht, als ginge es genau jetzt um dieses Kind und seine Entwicklung, sondern als erinnere sich eine alte Frau an ihre eigene Kindheit, und habe diese mit ihrem lange gereiften Sprachverständnis und einer ausgeprägten Lebenserfahrung verarbeitet.
„Ist dir das Fußballspielen denn so wichtig?“
„Ja, das ist es.“
„So wichtig, dass du vor Kummer stirbst, wenn du nicht Fußball spielen kannst?“
Ich überlege kurz.
„Naja, so wichtig dann auch wieder nicht.“
„Dann ist es auch nicht wesentlich für dich.“
Mafalda und auch ihre Eltern konnten also leider nicht bei mir punkten. Sehr gut gefallen hat mir hingegen Estella, die sich schon in den ersten Momenten im Buch als sehr besonders herausstellte und sich entsprechend weiterentwickelte. Sie scheint den Kleinen Prinzen sehr zu mögen, denn es finden sich in ihren Passagen viele Anlehnungen an diesen und Paola Peretti zieht dessen wunderbaren Weisheiten gerne zu Rate. Ob ein kleines Mädchen diese poetische und verklärte Herangehensweise in der Realität so gut versteht wie Mafalda im Roman? Ich glaube, nicht sehen zu können, ist in diesem Alter schlimmer als viele andere Einschränkungen. Aber jeder Mensch ist anders und unsere Hauptfigur lässt sich gerne von Estellas Gedankengängen einfangen und freundet sich mit der Zeit immer mehr mit der Frau an.
Eine andere Freundschaft schließt Mafalda mit Filipo, einem Schulkameraden, der ebenfalls an einigen Stellen überraschend reif und tiefsinnig für sein Alter handelt. Aber er hat das Herz am rechten Fleck und wird Mafalda eine wichtige Stütze.
Das Cover ist wunderschön gelungen. Der Kirschbaum, Mafaldas liebster Ort, wird hier sehr ansprechend umgesetzt und transportierte zumindest mich in einen emotional zugänglichen Zustand. Als ich zu lesen begann, war ich ziemlich enttäuscht, dass diese warmherzige Stimmung sich nicht auf den Stil und die Charaktere übertrug. Da sprang leider kein Funke über, diese Sachlichkeit, diese Rationalität des Umgangs mit dem Thema ließ mich außen vor, ich baute keine Beziehung zu Mafalda ab. Enttäuscht wechselte ich zum Hörbuch, das mir glücklicherweise besser gefiel.
Zwar konnte die Sprecherin nichts am Roman selbst ändern, aber sie hauchte den Figuren – vor allem Filipo und Estella sind für mich sehr gut umgesetzt – Leben und Pfiff ein. Mit ihrer lebhaften Interpretation riss sie mich stellenweise regelrecht mit, auch wenn mir die inhaltliche Ausgestaltung an vielen Stellen nicht sehr zusagte. Aber das ist bekanntlich Geschmackssache.
Weil der Titel bei mir nicht so sehr gut weggekommen ist, verlinke ich auf eine positivere Meinung zum Buch bei Zwiebelchens Plauderecke.
Inhalt
Eine kleine Stadt irgendwo in Italien. Mafalda ist gerade mal neun, als sie erfährt, dass sie in spätestens sechs Monaten blind sein wird: Sie leidet an einer seltenen Augenkrankheit. Von Woche zu Woche kann sie weniger gut sehen und muss immer mehr Dinge aufgeben, die ihr wichtig sind: die Sterne am Nachthimmel zählen; Fußball spielen mit den Jungs; über die Ritzen im Bürgersteig springen… Ihr einziger Trost ist der Kirschbaum im Schulhof, zu dem sie eine ganz besondere Beziehung hat. Und dann gibt es noch ihre Freundin Estella, die rumänische Hausmeisterin, die Mafalda dabei helfen möchte, ihr Schicksal eigenständig zu meistern.
Sprecherin
Jodie Ahlborn, geboren 1980 in Hamburg, ist Schauspielerin und Hörbuchsprecherin. Sie ist regelmäßig in Filmen und im Fernsehen zu sehen, u.a. in »Erbsen auf halb 6« und »Lindenstraße«. Mit ihrer jungen, ausdrucksvollen Stimme verzaubert Jodie Ahlborn die Hörer. Für ihre Lesungen wurde sie bereits mehrfach auf die hr2-Bestenliste gewählt.
Quelle: Der Audio Verlag