Doris´Geschichte setzt an, als die Dame bereits 96 Jahre alt ist. Kurz nachdem ich sie in ihrem hilfsbedürftigen Leben kennengelernt habe, stürzt Doris, weshalb sie ins Krankenhaus eingewiesen wird. Ich mochte sie sehr, schon von Anfang an und sie tat mir ein bisschen leid. Dem alten, verbrauchten und zunehmend auf Hilfe angewiesenen Körper steht ein wacher Geist entgegen, der nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch noch wach im Hier und Jetzt lebt. Und den körperlichen Verfall bei vollem Bewusstsein miterlebt – das hat mich sehr berührt. Aber die alte Frau jammert nicht, und das, obwohl sie sehr einsam ist. Denn alle alten Freunde sind bereits verstorben, und das einzige, was Doris tun kann, ist, sich intensiv an sie zu erinnern. Das tut sie – und erzählt mir von ihnen, erzählt mir aus ihrem Leben. Bruchstückhaft. Nicht chronologisch. Unvollständig. Oft reißt sie dabei Charaktere und Geschehnisse nur an. So wie es eben so ist mit Erinnerungen. Sie kommen und gehen, sind sprunghaft, mal vergnügt, mal betrübt. Denn der Mann, den sie so sehr liebte und es immer noch tut, war ihr nie vergönnt. So musste sie ihr Glück woanders suchen – und fand es in der Person ihrer Großnichte Jenny, mit der sie trotz ihres hohen Alters regelmäßig skypt – denn Jenny und ihre Familie wohnen weit von ihr entfernt.
Als Jenny erfährt, dass Doris im Krankenhaus liegt und sie sich sorgt, dass die alte Dame möglicherweise bald sterben wird, beschließt sie, ihr das Leben so schön, angenehm und herzenswarm wie nur möglich zu machen. Dabei wird aus Doris´ langsam auch Jenny Geschichte und auch diese jüngere Frau schloss ich in mein Herz. Zeigt sie doch, worauf es im Leben ankommt. Für andere da sein, vor allem, wenn sie einen besonders brauchen. Auf sein Herz hören und mal die Prioritäten anders als sonst setzen. Und sich mitfreuen und dem anderen sein Glück gönnen, Unmögliches möglich machen.
Von der Grundidee gefällt mir dieser Roman nach wie vor, auch die Ausführung mochte ich über weite Strecken. Sowohl das Sprunghafte, als auch das sprachlich nicht ganz Ausgefeilte, denn es passte so einfach perfekt zu den verschiedenen Gedanken, die einem im Kopf herumkreisen und die nur selten einer Chronologie folgen. Glücklich und traurig, das sind zudem die beiden emotionalen Grenzposten des Lebens, und sie dürfen gerne bis an ihre Grenzen ausgereizt werden, was bei den Rückblicken auch geschehen und gut gelungen ist. Lediglich der Schluss gefiel mir nicht. Klang das bisherige Leben der Dame glaubhaft und authentisch, katapultiert die Autorin ihren Roman zum Ende hin in eher unglaubwürdige Sphären. Denn so wie Jenny agiert und das, was sie in die Wege leitet, und vor allem, zu welchem Ende dies führt, ist für meinen Geschmack sehr an den Haaren herbei gezogen und hat mir ein bisschen die bis dahin runde Geschichte verleidet. Ebenfalls sehr schade finde ich, dass Doris die Leser und Hörer nur einen Teil ihres Lebens erzählt – Jahrzehnte bleiben unerwähnt -, und dass die erwähnten Freunde aus dem roten Adressbuch nur unvollständig beleuchtet werden, da jedem zumeist nur ein paar Passagen gewidmet sind. Aber so ist das halt mit den flüchtigen Gedanken…
Die beiden Sprecherinnen haben einen guten Job gemacht. Susanne Schroeder vertont die Vergangenheit, während Beate Himmelstoß das gegenwärtige Geschehen spricht.
Inhalt
Das Leben eines Menschen enthält so viel Liebe, Leid und Glück. Wir müssen uns nur die Zeit nehmen zuzuhören
Doris wächst in einfachen Verhältnissen im Stockholm der 1920er Jahre auf. Als sie zehn Jahre alt wird, macht ihr Vater ihr ein besonderes Geschenk: ein rotes Adressbuch, in dem sie all die Menschen verewigen soll, die ihr etwas bedeuten. Jahrzehnte später hütet Doris das kleine Buch noch immer wie einen Schatz. Und eines Tages beschließt sie, anhand der Einträge ihre Geschichte niederzuschreiben. So reist sie zurück in ihr bewegtes Leben, quer über Ozeane und Kontinente, vom mondänen Paris der Dreißigerjahre nach New York und England – zurück nach Schweden und zu dem Mann, den sie einst verlor, aber nie vergessen konnte.
Autorin
Sofia Lundberg wurde 1974 geboren und arbeitet als Journalistin in Stockholm. Mit ihrem Debütroman »Das rote Adressbuch« eroberte sie die schwedische Literatur- und Bloggerszene im Sturm.
Sprecherinnen
Beate Himmelstoß wurde 1957 in Starnberg geboren. Nach dem Abitur studierte sie Philosophie und Theaterwissenschaft in München und machte eine private Schauspielausbildung. Sie gestaltete mehrere Lyrikprogramme mit Musik und hält regelmäßig Originaltextlesungen philosophischer Texte.
Susanne Schroeder spielte u. a. an den Kammerspielen und am Residenztheater in München, am Theater Luzern, am Hessischen Staatstheater in Kassel sowie in zahlreichen Produktionen der freien Szene München. Seit 2009 arbeitet sie als Sprecherin für den Bayerischen Rundfunk.
Quelle: Randomhouse
Liebe Heike,
schade, dass dich der Schluss dann doch nicht überzeugen konnte! Ich fand ihn super, gerade weil er so war, wie er war. Ein hartes und manchmal sehr trauriges Leben braucht auch wieder Lichtpunkte. Und das Ende empfand ich als so einen. Viele bittere Jahre der Entbehrung wurden dann für einen kurzen Moment wiedergutgemacht. Vielleicht ein bisschen an den Haaren herbeigezogen, wie du sagst, aber irgendwie verdient. ;-) Und gerade deshalb empfand ich es nicht als kitschig.
So ein langes Leben hat viel zu erzählen. Aber dann wäre das Buch noch viel dicker geworden. Dieses entlanghangeln an den Einträgen im Adressbuch war ein sehr guter Trick, nicht ausufernd zu werden.
GlG, monerl
Liebes Monerl, klar braucht ein entbehrungsreiches Leben Lichtblicke. Es war mir halt zu punktgenau und zeitlich zu kurz gerafft, was das letzte Highlight betraf. In der Form war es mehr als rosarot und unrealistisch und passte für mich auch stilmäßig nicht zum Schluss. Zum Glück sind die Geschmäcker verschieden.
Das stimmt, man konnte durch das „Abarbeiten“ des Adressbuchs nur episodenweise erzählen. Aber die Menschen bzw ihre Schicksale hätten mich einfach nur interessiert. ;-)
LG Heike :-)