*+* Anthony Doerr: „Memory Wall“ *+*

Erinnerungen sind für mich wie Fossilien. So wie tote Körper meist verrotten, so verschwinden Geist, Seele und diese immense Menge an Erinnerungen, die ein jedes Leben ausmachen, ins Unergründliche.
Manchmal geschieht es, dass ein Körper in Form einer Fossilie unsterblich wird, und manchmal stößt man auf alte, längst vergessene und verloren geglaubte Erinnerungen – und sollte sie hüten wie einen Schatz!

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Die 74-jährige Alma lebt in einem Vorort Kapstadts. Ohne ihre treue Hilfe Pheko wäre die alte Dame längst verloren, denn zu den immer größer werdenden Erinnerungslücken kommt zunehmend das Vergessen der kleinen Dinge, das sie für den Alltag immer lebensunfähiger werden lässt.
Die Erinnerungen an Almas Leben wohnen schon lange nicht mehr in ihr selbst. Sie scheinen unwiederbringlich verschwunden. Eine „Memory Wall“ voller Erinnerungen in verschiedenster Form zeigt ihr Leben. Manchmal erkennt Alma Fotos oder Notizen, meist benötigt sie aber eine modernere Hilfsmethode, um zu sich selbst zu finden. Aber auch dieses Mittel versagt eines Tages…

„Almas Gedächtniswand – waren das nicht alles Versuche, der Vernichtung zu trotzen? Was sind Erinnerungen überhaupt? Wie können sie so zerbrechlich und vergänglich sein?“

Es berührte mich so schmerzhaft, mitansehen zu müssen, wie ein ganzes Leben, prall gefüllt mit Erlebnissen, Gefühlen und einem großartigen Sein in einer leeren Hülle endet.
Soll das wirklich alles gewesen sein? Leben und Vergessen?

Nein, oder jedenfalls nicht nur. Denn wenn es gelingt, die Erinnerungen einem Fossil gleich aufzuspüren, lebt zwar nicht der Mensch in seiner ursprünglichen Form weiter, aber jemand anders kann diese Dinge nachempfinden, wiederbeleben und so ein Stück der fremden Seele konservieren. Und manchmal – so wie hier geschehen – kommt man einem Geheimnis auf die Spur, einem Lebenstraum, den man stellvertretend zu Ende träumen kann.

Almas vor Jahren verstorbener Mann hatte eine Leidenschaft, er war Fossiliensammler. Viele Fundstücke hatte er zusammengetragen, aber er war stets auf der Suche nach dem einen Fossil, das seine Leidenschaft krönen sollte. Kurz bevor er dieses Ziel erreichen konnte, machte ihm jedoch der Tod einen Strich durch die Rechnung. Dieser Endpunkt fungiert durch eine Vielzahl von Fügungen später zu einem Wendepunkt in einem ganz anderen Leben.
So bilden Fossilien und Erinnerungen in dieser Novelle die zwei Leitmotive, die alles umspannen, diese wundervolle Geschichte abrunden und ihr den tieferen Sinn verschaffen.

„Nichts bleibt. Dass etwas versteinert, ist ein Wunder. Die Chancen stehen eins zu fünfzig Millionen. Der Rest von uns? Wir verschwinden im Gras, in Käfern, in Würmern. In Lichtstreifen.“

Anthony Doerrs individueller, eingängiger, manchmal poetischer Erzählstil macht aus „Memory Wall“ ein kleines Kunstwerk. Die wundervolle Sprache, die liebevollen Details, die Warmherzigkeit, mit der er sich seinen Figuren widmet, das Fingerspitzengefühl beim Thema Demenz, die feinfühlig und behutsam konstruierten Charaktere, der subtile Spannung, die sich durch die Seiten zieht, sowie die feinen Erzählfäden, aus denen sich zum Schluss das Gesamtwerk zusammenfügt, werden mich auch dieses Buch des Autors nicht so schnell vergessen lassen.

Inhalt
Unser Leben, unsere Welt werden durch unsere Erinnerungen zusammengehalten. Was geschieht mit uns, wenn wir sie verlieren, und welche Möglichkeiten tun sich auf, wenn andere unsere Erinnerungen wiederbeleben können? Der 74-jährigen Alma Konachek, die in einem Vorort von Kapstadt lebt, widerfährt genau dies. Sie verliert ihr Gedächtnis. Unbekannte brechen mehrfach in ihr Haus ein, auf der Suche nach Hinweisen zu einem spektakulären Fossilienfund ihres plötzlich verstorbenen Mannes. Denn Alma hat eine Wand voller Fotos, Gedächtnisstützen, Speichermedien, in der sich irgendwo der fehlende Hinweis zu dem gesuchten Fossil befindet.
In dieser lichten, wunderschönen Novelle gelangt schließlich ein Junge in den Besitz des Geheimnisses dieser alten Frau und ihres Mannes, einer Episode aus ihrer Vergangenheit mit der Macht, ein Leben zum Guten zu wenden. Der Junge reist dazu in die Karoo-Wüste und setzt sich dieser wilden Landschaft aus. Wie alle Werke Doerrs zeugt auch dieses von der Größe des Lebens – von der geheimnisvollen Schönheit der Fossilien, Wolken, Blätter – vom atemberaubenden Glück, in diesem Universum zu leben. Die Vorstellungskraft und Sprachmacht, das Einfühlungsvermögen und die Erzählkunst Anthony Doerrs sind unvergleichlich.

Autor
Anthony Doerr, 1973 in Cleveland geboren, lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in Boise, Idaho. Neben Erzählungsbänden wie „Der Muschelsammler“ (2007) veröffentlichte Doerr die Romane „Winklers Traum vom Wasser“ (2016) und „Alles Licht, das wir nicht sehen“ (2016), für den er den Pulitzer Prize erhielt. 2016 erschien auf Deutsch seine Novelle „Memory Wall“. Für seine Erzählungen hat Doerr bislang vier Mal den renommierten O. Henry Prize erhalten, neben vielen anderen Auszeichnungen erhielt er auch drei Mal den Pushcart Prize.
Quelle: C.H. Beck

 

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Über irveliest

Wie ihr euch sicher schon denken könnt lese ich sehr gerne, am liebsten Krimis und Thriller, aber auch niveauvolle Romane, Kinder- und Jugendbücher. Meine Lieblingsbuchhandlungen sind unsere kleine Buchhandlung am Ort und zum ordentlichen Stöbern Thalia in der Nachbarstadt. Online stöbere ich am liebsten bei lovelybooks und auch bei Amazon nach Büchern...
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5 Antworten zu *+* Anthony Doerr: „Memory Wall“ *+*

  1. nilibine70 schreibt:

    Oh…das ist bisher an mir vorbeigegangen..ich glaube, das notier ich mir mal auf der WuLi!

  2. mikkaliest schreibt:

    Huhu!

    Wow, was für eine grandiose Rezension! Und das Buch klingt unglaublich gut, auch wenn ich das Thema Demenz immer sehr traurig finde. Meine 95-jährige Oma verliert auch seit etwa zwei Jahren rapide ihre Erinnerungen, aber das ist ja auch ein stolzes Alter und sie scheint sich dessen gar nicht bewusst zu sein. Tragisch finde ich es immer besonders, wenn jemand relativ früh anfängt, dement zu werden.

    Ich habe deinen Beitrag HIER für meine Kreuzfahrt durchs Meer der Buchblogs verlinkt!

    LG,
    Mikka

    • irveliest schreibt:

      Hallo Mikka,
      das Thema ist sehr interessant umgesetzt und erhält die Bühne, die ihm gebührt, denn das Thema ist mit zunehmendem Alter immer gegenwärtiger. Eine meiner Omas war schon mit 70 so „voller Alzheimer“, dass es einem das Herz zerrissen hat. Die andere Oma war in den letzten ihrer 99 Jahren auch sehr dement und hat sich immer mehr verloren. Gut, dass man nicht weiß, wie es mal mit einem selbst endet.

      Danke für die erneute Erwähnung!
      Liebe Grüße, Heike

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