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Anthony Doerr hat mich mit seinem Roman „Alles Licht, das wir nicht sehen“ mehr als begeistert. So war ich auf seine Story-Sammlung natürlich sehr gespannt und obwohl es sich um keinen Roman, sondern um Kurzgeschichten handelt, die ich eigentlich nicht bevorzugt lese, musste ich „Die Tiefe“ dennoch unbedingt lesen – und wurde nicht enttäuscht. Ganz im Gegenteil!
Mit jeder einzelnen Story traf der Autor einen ganz bestimmten Nerv in mir. Jede Geschichte konnte mich ganz schnell in ihren Bann ziehen. Die Charaktere, das Thema, die Handlung, alles wird mit traumwandlerischer Sicherheit in Nullkommanichts definiert.
Wozu manche Autoren viele Seiten brauchen, benötigt Anthony lediglich wenige Sätze. Schnell weiß man, worum es geht und liest nicht nur, sondern man scheint es auch selbst zu erleben. So intensiv muten die Charaktere, ihr Schicksale, ihre Geschichten an. Die geschaffene Atmosphäre erscheint in jeder einzelnen Story zum Greifen nahe und sie geht mir manchmal regelrecht unter die Haut.
„Jede Stunde, denkt Robert, verschwindet auf dem ganzen Erdball eine unendliche Menge Erinnerungen, ganze strahlende Atlanten verschwinden in Gräbern. Aber während ebendieser Stunde laufen auch Kinder herum und erkunden Territorien, die ihnen völlig neu erscheinen. Sie verdrängen die Dunkelheit und streuen Erinnerungen wie Brotkrumen hinter sich. Die Welt wird neu erschaffen.“
Vielleicht liegt das auch an dem großen Thema, das der Autor in seiner Geschichtensammlung behandelt. Das große, weite, wichtige, manchmal auch lebensnotwendige Feld der Erinnerungen zieht sich wie ein roter Faden durch die sechs Geschichten. Sie sind thematisch sehr unterschiedlich – ebenfalls, was den Schauplatz, die Situation und Konstellation der Charaktere als auch ihre zeitliche Ansiedelung betrifft. So spannt Anthony Doerr seinen weiten Bogen von den Schrecken des Holocausts bis hin zum Segen und Fluch der heutigen medizinischen Möglichkeiten. Er schreibt über Alt und Jung, gemeinsam und einsam, vom Ursprünglichen und dem Fortschritt, von altmodisch und modern, von der Realität und dem Mythos, vom Verlassen, Suchen und Finden. Aber es sind nicht nur die vielen Gegensätzlichkeiten, von denen dieses zauberhafte Buch getragen wird. Denn über allem steht die Liebe, die sich in jeder Geschichte auf andere Art und Weise zeigt, zudem wird dieser Geschichtenband dem ganz speziellen Werkstoff – der sich in verschiedentlichst zeigenden Formen der Erinnerung – zusammengehalten.
Formidable!
Inhalt
Die sechs Stories dieses Bandes, angesiedelt auf drei verschiedenen Kontinenten, handeln von Erinnerung und Liebe. In jedem Augenblick, sagt Anthony Doerr, verschwinden überall auf der Welt unzählige Erinnerungen, dabei sind sie es, die unserem Leben Sinn und Zusammenhang verleihen. Gleichzeitig erforschen Kinder neues, unbekanntes Terrain, formen frische Erinnerungen, erfinden die Welt neu. In „Die Memel“ zieht ein verwaistes Mädchen zu ihrem Großvater nach Litauen und entdeckt eine Welt, in der Mythen real werden. In „Dorf 113“ geht es um den Bau des Drei-Schluchten-Damms und um die Samenhüterin, die auch die Geschichte des Dorfes bewahrt, das bald überflutet werden wird. In „Nachwelt“, einer erschütternden, unvergesslichen Geschichte, wird eine Frau, als einzige Überlebende aus einem jüdischen Waisenhaus in Hamburg dem Holocaust entronnen, von Visionen ihrer Kindheitsfreundinnen heimgesucht, findet aber Trost in der zärtlichen Fürsorge ihres Enkelsohns. „Die Tiefe“, angesiedelt im Detroit der dreißiger Jahre, erzählt die melancholische Liebesgeschichte von Tom und Ruby, die Tom wegen seiner Herzschwäche in Lebensgefahr bringt. Doerr erzählt von fast mystischen Momenten, in denen die Zeit aufgehoben scheint und die Toten anwesend sind. Die Welt wird transparent, wenn dieser große Erzähler sie und ihre Bewohner beschreibt.
Übersetzt von Werner Löcher-Lawrence
Autor
Anthony Doerr, 1973 in Cleveland geboren, lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in Boise, Idaho. Neben Erzählungsbänden wie „Der Muschelsammler“ (2007) veröffentlichte Doerr die Romane „Winklers Traum vom Wasser“ (2016) und „Alles Licht, das wir nicht sehen“ (2016), für den er den Pulitzer Prize erhielt. 2016 erschien auf Deutsch seine Novelle „Memory Wall“. Für seine Erzählungen hat Doerr bislang vier Mal den renommierten O. Henry Prize erhalten, neben vielen anderen Auszeichnungen erhielt er auch drei Mal den Pushcart Prize.
Quelle: C.H. Beck Verlag
Hört sich super an!
Ich fand „Alles Licht, das wir nicht sehen“ auch wunderschön und kein großer Fan von Kurzgeschichten. 😉
Ich behalt das mal im Auge. Danke für den Tipp!
Falls du „Die Tiefe“ lesen wirst, wünsche ich dir ganz viel Freude damit! LG Heike
Liebe Heike,
schön, dass dich die Stories auch so begeistert haben wie mich! :) Du hast recht, Anthony Doerr schafft es, mit wenigen Worten den Leser zu fesseln.
Wir haben sogar das selbe Zitat gewählt. :)
Ich hoffe, es in in Ordnung, dass ich deine schöne Rezension in meiner verlinkt habe?
Liebe Grüße
Nicole
P.S. Ein weiteres Lesehighlight ist auch sein Roman „Winklers Traum vom Wasser“.