Sam Wyndham hat den Ersten Weltkrieg überlebt – seine Freunde nicht, und auch seine Frau ist tot, als der Captain zurück in die Heimat kommt.
In eine Heimat, die ohne die Menschen, die ihm etwas bedeutet haben, kaum noch einen Wert für ihn hat. So kommt ihm das Angebot seines ehemaligen Kommandanten, eine Stelle in Kalkutta anzutreten, sehr recht. Er nimmt es an und rauscht in eine völlig andere Welt.
Wyndham hat kaum Zeit, sich auch nur ansatzweise zu akklimatisieren, sich an das gnadenlose tropische Klima zu gewöhnen, die Beziehungen der verschiedenen Bevölkerungsschichten zu durchschauen oder schlicht eine Bleibe zu finden, die ihm gefällt und in der er innerlich zur Ruhe kommen kann.
Denn kurz nach dem Amtsantritt des Captains in der indischen Metropole wird er sogleich gefordert – es ist ein Mord geschehen.
Es handelt sich um einen britischen Beamten hohen Ranges, der in einem zweifelhaften Umfeld übel zugerichtet aufgefunden wurde – und somit ist äußerstes Fingerspitzengefühl bei den Ermittlungen gefragt.
„Hier draußen schien nahezu alles dazu angetan, einen Engländer umzubringen. Das Essen, die Insekten, das Wetter. Es war, als würde Indien auf unsere Anwesenheit reagieren wie ein Körper, dessen Abwehrkräfte sich gegen eingedrungene körperfremde Stoffe zur Wehr setzen. Insofern glich es tatsächlich einem Wunder, dass Menschen wie MacAuley so lange überlebten, bevor es sie erwischte.“
Der Mann wurde jedoch nicht Opfer natürlicher Gegebenheiten, wenngleich diese Charakterisierung des Verhältnisses zwischen Indien und den britischen Eindringlingen sehr treffend ist.
Denn die indische Bevölkerung sehnt ihre Freiheit und Unabhängigkeit vom britischen Empire sehnlichst herbei. Ihr Unmut scheint inzwischen hohe Wellen zu schlagen. Aber steckt wirklich das unterdrückte Volk hinter diesem Mord? Müssen die britischen Besatzer „den kleinen Mann“ fürchten, oder war diese grausame Tötung MacAuleys ein politischer oder gar militärischer Akt, wodurch die Gefahr von ganz anderer Stelle drohe würde? Wyndham ist ratlos und alle seine Ermittlungsversuche verlaufen schnell im Sand, bis er endlich weiß, welche Richtung er einschlagen muss. Dabei bekommt er Unterstützung von seinen beiden Team-Mitgliedern, ebenfalls interessanten Charakteren, die zusammen mit Wyndham eine gut ausgeklügelte Personenkonstruktion ergeben.
Mit seinem Debutroman, der gleichzeitig den Auftakt zu einer Reihe um Sam Wyndham markiert, ist dem Autor ein toller Wurf gelungen.
Er schafft eine starke, überzeugende Atmosphäre des damaligen Kalkuttas und gibt umfassende Einblicke in die indische Bevölkerung, die dem „täglichen Rassismus“ der häufig überheblichen britischen Besatzer ausgesetzt sind und zeigt detailreich auf, mit welchen Problemen auch die daraus entstandene Schicht der Anglo-Inder zu kämpfen haben. Durch die lebhaften und plakativen Schilderungen und Beschreibungen kann man sich die damaligen Zustände gut vorstellen und sich auch in die relevanten Charaktere gut hineinfühlen.
Die Protagonisten sind gut ausgearbeitet, gewinnen – von der Hauptfigur abgesehen – jedoch erst im Verlauf der Geschichte zunehmend an Schärfe und sind dadurch dem Spannungsbogen durchaus zuträglich. Denn lange Zeit fragt sich nicht nur der Captain, sondern auch der Leser, wer und welche Motivation hinter dem Mord an MacAuley und späteren weiteren Verbrechen stecken.
Sam Wyndham ist eine gelungene, überaus menschlich gezeichnete Figur. Beeindruckend seine Offenheit und Fairness, mit der er jedem – ganz gleich, welcher Bevölkerungsschicht er entstammt – begegnet und wie unvoreingenommen und neutral er in diesem Moloch unbeirrt seine Arbeit verrichtet. Beeindruckend ebenfalls, mit welcher Motivation er zu Werke geht, denn seine persönliche Situation würde auch ein anderes Verhalten rechtfertigen. Durch seine Verluste hat er ein schweres Trauma erlitten, dem er hin und wieder in der Opiumhölle zu entkommen versucht. Dieser Ritt auf der Rasierklinge gelingt glücklicherweise zufriedenstellend für den Captain. Ich mochte diesen Protagonisten sehr, denn neben seinen charakterlichen Eigenschaften gefielen mir auch sein hintergründiger trockener Humor und seine intensiven Gedankengänge, in denen er nicht nur die zu lösenden Fälle durchknetet, sondern sich auch über Land und Leute seine ureigene Meinung bildet.
Abir Mukherjee erzählt flüssig, gefällig und durch die Ausgewogenheit seiner Zutaten sehr kurzweilig. Überzeugend ist zudem die Recherche, die er im Großen, aber auch in kleinen Details passend in die Handlung einbaut.
„Ein angesehener Mann“ ist ein großartiger Krimi ganz nach meinem Geschmack. Solide ausgearbeitete Fälle, denen ein interessantes, gut durchdachtes Geflecht an authentischen Protagonisten gegenübersteht. Alles passt zusammen, es fließt und wirkt an keiner Stelle konstruiert. Gelegentliche historische Einwürfe stärken die Pfeiler dieser Glaubwürdigkeit. Als I-Tüpfelchen fängt der Autor die Atmosphäre Kalkuttas kurz nach dem Ersten Weltkrieg mit allen Sinnen äußerst lebendig ein, sodass es mir als Leser nicht schwerfiel, dieses indische Flair zu spüren, mich in den Roman hineinzufühlen, mitzufiebern und mitzuleiden.
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Inhalt
Kalkutta 1919 – die Luft steht in den Straßen einer Stadt, die im Chaos der Kolonialisierung zu versinken droht. Die Bevölkerung ist zerrissen zwischen alten Traditionen und der neuen Ordnung der britischen Besatzung.
Aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt, findet sich Captain Sam Wyndham als Ermittler in diesem Moloch aus tropischer Hitze, Schlamm und bröckelnden Kolonialbauten wieder. Doch er hat kaum Gelegenheit, sich an seine neue Umgebung zu gewöhnen. Denn ein Mordfall hält die ganze Stadt in Atem. Seine Nachforschungen führen ihn in die opiumgetränkte Unterwelt Kalkuttas – und immer wieder an den Rand des Gesetzes.
»Das Setting ist ein Pulverfass. Intelligent und mitreißend.« (Ian Rankin)
Autor
Abir Mukherjee ist Brite mir indischen Wurzeln: Seine Eltern wanderten in den Sechzigerjahren nach England aus. Sein Debütroman Ein angesehener Mann schaffte auf Anhieb den Sprung auf die britischen Bestsellerlisten. Mukherjee lebt mit seiner Familie in London.
Quelle: Heyne Verlag
Danke fürs Verlinken! :*
Gern geschehen!
Liebe Heike,
ich freue mich schon sehr, wenn ich dieses Buch von meiner Wunschliste befreien kann! Nach deiner Rezi weiß ich, dass es auf jeden Fall das richtige Buch für mich ist. Es ist erstaunlich, dass dies nun ein weiteres Buch ist, das in Indien spielt und mich total anspricht! Ach, so genial, wenn Lesehorizonte erweitert werden… :-)
GlG vom monerl
Liebes Monerl,
Indien zieht mich irgendwie auch sehr an – zumindest in Buchform! Ich bin mir sicher, dass dir dieser Krimi gefallen wird!
Liebste Grüße, Heike