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Edgar Selge und sein Sohn Jakob Walser betreten die Bühne. Jeder setzt sich an seinen Pult.
„Was glaubt ihr denn, wer wir sind?“, so beginnt Jakob Walser den Vortrag. Noch während ich mir denke, dass dies mal eine ganz andere Art der Vorstellung ist, begreife ich, dass die Lesung ohne jegliches Vorgeplänkel begonnen hat.
„Was glaubt ihr denn, wer wir sind?“, das werden Vater und Sohn noch häufiger fragen, denn so lautet der Text der literarischen Vorlage der heutigen Lesung im Rahmen der Recklinghäuser Ruhrfestspiele.
Deren diesjähriges Thema lautet „Kopfüber – Weltunter“ und der Roman „Was glaubt ihr denn“ von Björn Bicker könnte nicht besser gewählt sein.
Der Autor widmet sich in seinem Werk dem Multi-Kulti der heutigen Zeit, dem Miteinander, dem Gegeneinander, den gleichen Wünschen und unterschiedlichen Wegen zum Ziel, dem erhofften Leben in Frieden und relativem Wohlstand.
Ursprünglicher Schauplatz der Buchvorlage ist München, wo der Autor intensive Studien der dortigen Religionsvielfalt und säkularen Mehrheitsgesellschaft betrieben hat. Aus Gesprächen und Verhaltensstudien erschuf Björn Bicker seine literarische Collage, deren Worte ebenso authentisch und tiefsinnig wirken, wie Edgar Selge und Jakob Walser sie dem Publikum vortragen.
Zugrunde lag der Lesung allerdings eine Adaption der Buchvorlage. Diese hatte Björn Bicker für den Programmbestandteil „Urban Prayers Ruhr“ der Ruhrtriennale 2016 auf den Standort des Ruhrgebiets angepasst. Der Text sei aber, bis auf ein paar Ruhrgebietsaktualisierungen, mit dem Buchtext identisch, merkt der Autor an.
Eindringlich und intensiv konfrontieren sie ihre Zuhörerschaft mit den anderen, die eigentlich doch ebenso gleich sind wie wir. Ob sie ein Kreuz um den Hals tragen, ein Kopftuch, Turban, einen Punkt auf der Stirn – oder kein äußeres erkennbares Religionsmerkmal haben.
Ob sie in der Kirche beten, im Tempel, in der Moschee, in einem abgelegenen, leerstehenden Supermarkt – oder nirgendwo.
Sie alle möchten Freiheit und Frieden. Dumm nur, dass nicht nur zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen, sondern auch innerhalb der Gemeinschaften nicht immer Einigkeit herrscht…
Was ist die Lösung? Wie können wir miteinander statt gegeneinander umgehen?
Christen, Moslems, Hindus, Sikhs, Budhisten, und viele Gruppen mehr bilden den erzählten Glaubensteppich. Das Muster, das sie mit ihren Meinungen, Diskussionen, Einwürfen und Widersprüchen bilden, folgt keinem Gesetz und keiner Regel. Man ist sich halt in so vielen Dingen uneins, obwohl man eigentlich ja doch das Gleiche möchte.
Aus diesem Chor religiöser Gruppen treten zwei Figuren besonders hervor, deren Auftritte immer wieder den Chor der (Un)Gläubigen unterbrechen.
Da ist der Sikh, der von einem kasachischen DHL-Boten als Fahrer angelernt wird. Er erzählt von seinen Problemen mit seinem Glauben in Deutschland – tut das aber auf eine sehr heitere, positive und optimistische Weise.
Und da ist Leila, eine junge Frau mit muslimischen Wurzeln, deren Vater ihr und dem Bruder die freie Entfaltung in jeder Hinsicht anzuerziehen gedachte. Leila ist nun aus freier Entscheidung zur Kopftuchträgerin geworden und stößt damit überwiegend auf Unmut – bis sie ihre Gründe darlegt.
Ob es eine gemeinschaftliche Lösung für unsere Multi-Kulti-Gesellschaft geben wird, lässt der Autor offen. Aber eins ist klar. Nur, wenn wir miteinander statt übereinander reden, können wir zum friedlichen Ziel kommen.
Nicht nur der Inhalt des Lesungs-Stücks ist formidabel, auch dessen Umsetzung. Vater und Sohn haben ihren Text nicht nur gelesen, sie haben ihn gelebt. Abgelesen wurde selten, sehr häufig frei vorgetragen – mit Inbrunst und viel Feingefühl, aber auch einem Quäntchen Humor. Sowohl in ihren Hauptfiguren (Edgar Selge vertonte Leilas Geschichte, Jakob Walser die des Turban tragenden Sikh), als auch im Chor der (Un)Gläubigen verschiedenster Couleur wussten sie die entsprechenden Stimmungen überzeugend zu übertragen und verliehen der literarischen Vorlage Flügel. Die Intention des Stücks, die mehr als überzeugende Leistung der Schauspieler – beides traf mitten ins Herz des Publikums. Edgar Selge und Jakob Walser wurden sehr verdient mit frenetischem Beifall und standing ovations für ihren Vortrag belohnt.
Björn Bickers „Was glaubt ihr denn“ ist im Verlag Antje Kunstmann erschienen. Die Adaption für die Lesung im Rahmen der Recklinghäuser Ruhrfestspiele ist nicht im freien Handel erhältlich.
Liebe Heike,
das klingt nach einer außergewöhnlichen Lesung mit einem wichtigen Thema. Die Buchvorlage ist mir bisher noch völlig unbekannt, werde ich mir aber mal näher anschauen. Danke für deinen Bericht! :)
Liebe Grüße
Nicole
Liebe Nicole,
ja, da passte einfach alles. Die Vorlage – zurechtgeschnitten auf das Ruhrgebiet – und die grandiose Darbietung!
Das Buch habe ich inzwischen hier und stelle es demnächst auch vor :-)
Liebe Grüße, Heike